Die Ukraine hat nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj am 1000. Kriegstag erstmals russisches Gebiet mit weiterreichenden US-Raketen angegriffen. Dabei handelte es sich um die russische Grenzregion Brjansk. Die ukrainischen Streitkräfte verfügten über die US-Raketen vom Typ ATACMS genauso wie über eigene Fähigkeiten und würden diese auch nutzen, bestätigte Selenskyj am Dienstag russische Angaben.
Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, die Luftabwehr habe fünf von sechs Raketen vom Typ ATACMS abgeschossen, eine Rakete sei beschädigt worden. Die Regierung in Moskau verurteilte das Vorgehen als Beweis dafür, dass der Westen den Konflikt eskalieren wolle. Zugleich vollzog Präsident Wladimir Putin die bereits seit längerem geplante Änderung der Nukleardoktrin dahingehend, dass die Schwelle für einen Atomschlag herabgesenkt wurde.
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Die Ukraine nutzte mit dem Angriff nach russischer Darstellung die Insidern zufolge von US-Präsident Joe Biden erteilte Erlaubnis, auch gelieferte weiter reichende Waffen gegen Ziele auf russischem Gebiet einsetzen zu dürfen. Das erklärte ein US-Regierungsvertreter in Washington. Die Ukraine teilte mit, sie habe ein russisches Waffenlager etwa 110 Kilometer in russischem Gebiet getroffen, was zu Sekundärexplosionen geführt habe. Die eingesetzten Waffen wurden nicht näher spezifiziert. Der Angriff ereignete sich exakt 1000 Tage nach Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow sieht in den Angriffen ein Signal, dass der Westen den Konflikt eskalieren wolle. „Diese hochtechnologischen Raketen können ohne die Amerikaner nicht eingesetzt werden“, sagte Lawrow. Darauf habe Putin mehrfach hingewiesen. Er hoffe, dass die neue nukleare Doktrin Russlands aufmerksam zur Kenntnis genommen worden sei. Zugleich lobte Lawrow Deutschland für die Entscheidung, keine Langstreckenwaffen an die Ukraine zu liefern. Dies sei „eine verantwortungsvolle Haltung“. Entgegen von Grünen, FDP und CDU/CSU weigert sich Bundeskanzler Olaf Scholz nach wie vor, der Ukraine den Marschflugkörper Taurus mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometer zur Verfügung zu stellen.
„An diesem Punkt des Krieges wird entschieden“
Die Ukraine will mit den weiterreichenden Raketen Abschussrampen und Produktionsstätten auf russischem Gebiet angreifen, um die Attacken vor allem auf die Energieversorgung des Landes möglichst frühzeitig abzuwehren. Dem Vernehmen nach soll die Freigabe der US-Waffen aber nur für die von der Ukraine besetzten Gebiete in der russischen Region Kursk gelten. Auch hier geraten die ukrainischen Streitkräfte zunehmend unter Druck. Die Ukraine will das besetzte Gebiet in Verhandlungen einbringen, um eine möglichst starke Position zu haben. Solche Gespräche sind allerdings nicht in Sicht.
„An diesem Punkt des Krieges wird entschieden, wer siegen wird, ob wir über den Feind oder der Feind über uns Ukrainer … und Europäer“, sagte Selenskyj vor dem Parlament anlässlich des tausendsten Kriegstags. Die Ukraine steht vor ihrem dritten Kriegswinter und muss gegen zunehmende russische Angriffe auf die heimische Energieversorgung ankämpfen. Es droht den Menschen abermals ein Mangel an Strom und Heizung.
Selenskyj warnte zugleich, dass die Zahl nordkoreanischer Soldaten in Russland auf 100.000 steigen könnte. „Jetzt hat Putin 11.000 nordkoreanische Soldaten an die Grenzen der Ukraine gebracht. Dieses Kontingent könnte auf 100.000 wachsen“, sagte Selenskyj in einer Videoansprache im Europäischen Parlament. Nordkorea hat nach Angaben der Ukraine und ihrer westlichen Verbündeten neben der Unterstützung mit Waffen inzwischen auch Truppen nach Russland entsandt. Der südkoreanische Geheimdienst erklärte in der vergangenen Woche, dass nordkoreanische Truppen bereits an Kämpfen gegen ukrainische Streitkräfte beteiligt gewesen seien.
Sumy erneut unter Beschuss
Russland setzt seinerseits den Vormarsch in der Ostukraine fort und meldete am Dienstag die Eroberung eines weiteren Dorfes. Dabei handle es sich um die Ortschaft Nowoselydiwka, meldete die amtliche Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf das Verteidigungsministerium. Zudem habe die Luftabwehr in den vergangenen 24 Stunden bei ukrainischen Angriffen fünf ballistische Raketen und 85 Drohnen abgeschossen. Seit August erobert Russland in der Ostukraine Dorf um Dorf und verzeichnet seine schnellsten Geländegewinne seit dem ersten Kriegsjahr 2022.
Bei erneutem russischen Beschuss der Region Sumy im Nordosten der Ukraine kamen nach Angaben örtlicher Behörden zwölf Menschen ums Leben, darunter auch ein Kind. Bei dem nächtlichen Angriff mit zwei Drohnen sei ein Wohngebäude in der Kleinstadt Hluchiw nahe der russischen Grenze getroffen worden. 13 weitere Menschen seien verletzt worden, darunter drei Kinder. Zwei Hochhäuser und ein Krankenhaus seien beschädigt worden. Unter den Trümmern könnten noch weitere Opfer liegen. Erst am Sonntag waren bei einem russischen Raketenangriff auf die Regionalhauptstadt Sumy elf Menschen getötet und 89 verletzt worden.