Leichter Greifen trotz fehlender Hand mit Wiener KI-Prothese

++ THEMENBILD ++ Martin Wehrle zeigt die Funktionen einer „bebionic“-Hand © APA/HELMUT FOHRINGER

Das Aufheben eines Stiftes mit exakt zum Objektgewicht passendem Kraftaufwand oder das demonstrative Erheben des Zeigefingers ist für viele Menschen selbstverständlich – klarerweise aber nicht für jemanden, dem eine Hand fehlt. Mit modernen Hightech-Prothesen aus Wien und etwas Unterstützung von Künstlicher Intelligenz (KI) wird das wieder möglich, wie Martin Wehrle von Ottobock bei einem APA-Besuch vorzeigte. Dazu brauche es viel Forschung, exakte Produktion – und Übung.

„Ich habe hier eine Unterarmprothese, die myoelektrisch gesteuert wird“, so Wehrle, Senior-Produktmanager bei Otto Bock in Wien-Simmering. Im speziellen Fall handelt es sich um die „bebionic“-Hand – eine der technisch komplexesten Technologien, die der Weltmarktführer momentan anbietet. „Ich wurde mit einem Unterarm geboren“, erklärte der Produktmanager, der auch an der Technischen Universität (TU) Wien als Lehrbeauftragter über moderne Prothetik spricht. Viele Benutzer der seit wenigen Jahren am Markt befindlichen künstlichen Hand haben ihren Arm etwa bei einem Unfall verloren.

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Bewegungserinnerung und Sensoren steuern futuristische Prothese an

In letzterem Fall bleiben am Unterarm in der Regel jene Muskeln vorhanden, die die Hand einst bewegt haben. Die Erinnerung an die verlorene Extremität bleibt im Gehirn ein Leben lang abgespeichert. Denkt man an das Öffnen der Hand, sendet es das Signal weiter an die dafür zuständigen Muskeln. Mittels mehrerer Sensoren an der Hautoberfläche kann dies registriert und in eine entsprechende Bewegung der durchaus futuristisch anmutenden Prothese umgemünzt werden. „Wir können heute mit bis zu acht Elektroden die Signale am Unterarm erfassen“, diese vielen Informationen kann man dazu nutzen, „mehr Bewegungsmuster aufzuzeichnen und diese auch feiner zu erkennen“. Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer präziseren Bewegungssteuerung.

Bei der Etablierung der Verbindung zwischen Träger und der bebionic-Hand „haben wir in den letzten Jahren sehr große Fortschritte erzielt“, so Wehrle: „Gerade im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz und Machine Learning können wir heute so eine Prothese wesentlich schneller individuell auf den Anwender – mich – anpassen.“ Das Öffnen, Schließen und Drehen der Hand sei meistens schon nach nur einer Stunde möglich. Geübt wird mit einer App am Handy oder Tablet.

Instrument-Lernen mit KI-Vermittlung

Das Erschließen möglichst vieler der zahlreichen Funktionen vergleicht Wehrle mit dem Erlernen eines Instruments: „Je mehr Sie üben, je mehr Sie sich mit dem Produkt beschäftigen, desto besser werden Sie.“ Hat man vor allem Freude daran, komme man nach ungefähr drei Monaten „schon sehr, sehr weit“. Es sei aber „ein lebenslanger Prozess, die Prothese in sein Körperschema zu integrieren – man lernt nie aus“, betonte Wehrle, der die Kosten für das Produkt in etwa im Bereich eines „gut ausgestatteten Kleinwagens“ einordnet.

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Tatsächlich sollte man mit der Prothese auch regelmäßig „zum Service“ kommen, wie der Leiter für Industrial Engineering, Matthias Buhl, erklärte. Dazu unterhält die Firma zahlreiche Stützpunkte weltweit. Entwickelt und gebaut werden viele der Produkte wie moderne Kniegelenke, Fußprothesen, Ellenbogen oder auch Kinderhand-Prothesen, in Abstimmung mit dem Hauptsitz in Deutschland, zum größten Teil in Wien.

Wiener Standort als One-Stop-Shop

Vielfach läuft der gesamte Prozess, von der Idee auf einem weißen Blatt Papier, über Grundlagenforschung, Technologie- und Softwareentwicklung sowie Programmierung bis zur Produktion, in der Bundeshauptstadt ab – oft auch unter Einbindung von Studenten von nahen Unis und Fachhochschulen. Eng ist die wissenschaftliche Verbindung zum Team von Oskar Aszmann von der Universitätsklinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie der Medizinischen Universität Wien. Das spreche auch in Zeiten hoher Lohn- und Lohnnebenkosten für den Standort.

Drei bis fünf Jahre kann es dauern, bis ein Produkt dann von rund 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern großteils in Handarbeit in Serie gefertigt wird. Mechatroniker, Feinmechaniker, Orthopädietechniker oder auch Uhrmacher bauen hier hochkomplexe Prothesen in je nach Typ relativ niedrigen Stückzahlen von Hunderten bis Tausenden, erklärte Buhl: „Der Vorteil ist, dass wir mehr oder weniger alles in einem Haus machen können.“ Das sei auch notwendig, da viele Teile nirgends bestellbar sind.

Langer Weg in Richtung menschliche Hand

„Hinter jedem Produkt steht ein Mensch, der einen Arm oder ein Bein verloren hat“, betonte Wehrle. Es gehe darum, wieder aktiv an gesellschaftlichen Abläufen teilzunehmen. Die Prothesen lassen sich auch ein Stück weit an den einzelnen Träger in Größe und Optik anpassen, vor allem ist es aber „die Steuerung, die sich mit modernen Machine Learning-Methoden sehr gut individualisieren lässt“. Wehrle: „Ich lerne quasi dieser Steuerung meine individuellen Muskelsignale.“

Klar sei, dass man noch „sehr weit weg von der menschlichen Hand“ ist. In Zukunft wird es aber immer besser gelingen, die noch vorhandenen Signale an den fehlenden Extremitäten noch genauer auszulesen. Blicke man zehn bis 15 Jahre nach vorne, sei denkbar, dass es implantierbare Sensoren geben wird, so der Produktmanager. Dann wäre man „näher an dem Signal“, könne störende Nebensignale besser ausblenden und „noch mehr Bewegungen feiner steuern“.

„Intelligenz im Komplettpaket“

Um im Medizinprodukte-Markt zu reüssieren, brauche es neben viel Geld qualifizierte Leute aus allen Bereichen der MINT-Berufe – also den Gebieten Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Man dürfe auch nicht vergessen, dass es ohne aufwändige klinische Studien keine Zulassungen und keine Rückvergütungen der Kosten durch Kranken- oder Unfallversicherungen gebe.

„Natürlich“ werde auch kopiert bzw. es tauchen Produkte mit ähnlichen Teil-Funktionen auf. Aufgrund der vielen einschlägigen Patente könne man dagegen auch vorgehen, erklärte Wehrle: „Wobei die Intelligenz wirklich auch in der Software, in der Anwendung, im kompletten Versorgungsprozess liegt.“

ottobock.com