Ein Imam koordiniert die türkische Erdbebenhilfe

Jetzt rächt sich Erdogans religiös getriebene Politik

Helfer der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad in den Trümmern eines eingestürzten Hochhauses bei Gaziantep. Die Klagen zu spät oder gar nicht gekommene Hilfe werden immer lauter.
Helfer der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad in den Trümmern eines eingestürzten Hochhauses bei Gaziantep. Die Klagen zu spät oder gar nicht gekommene Hilfe werden immer lauter. © AFP/Rifai

Ein Jahrhundertbeben wie jenes in der Türkei bringt jeden Staat an seine Grenzen. Das Chaos erschüttert auch staatliche Hilfsstrukturen. Doch in der Türkei ertönt immer lautere Kritik, die die Katastrophenschutzbehörde Afad selbst als Teil des Problems darstellt.

Die Abgeordnete der kurdischen HDP, Muazzez Orhan, etwa wirft ihr vor, in der Stadt Hassa (Provinz Hatay) nur die Ruine des Bruders eines Abgeordneten der Regierungspartei AKP nach Verschütteten durchsucht zu haben, nicht aber andere eingestürzte Gebäude. Private Helfer seien von der Afad behindert worden.

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Freiwillige, die bei der Behörde Hilfe anboten, erhielten keine Rückmeldung. Es gibt sogar Berichte, gespendete warme Kleidung sei abgelehnt worden, weil sie Logos einer Biermarke aufwiesen.

Religiöser Fanatismus inmitten des Erdbebenhorrors? Es wäre kein Wunder: Denn tatsächlich ließ Staatschef Recep Tayyip Erdogan seine islamistische Ideologie auch in die Katastrophenvorsorge sickern. Erst im Jänner hatte er per Dekret den Afad-Vizepräsidenten Ismail Palakoglu zum Generaldirektor für Katastrophenhilfe ernannt. Der 50-Jährige ist damit für alles verantwortlich, was derzeit funktioniert oder eben oft nicht funktioniert.

Bemerkenswert ist die Qualifikation Palakoglus: Der Absolvent einer Imam-Hatip-Schule studierte nach seinem Abschluss an der theologischen Fakultät der Universität Ankara 1995 islamische Wissenschaften mit Schwerpunkt Sufismus. Darauf folgte eine steile Karriere in der türkischen Religionsbürokratie. 2011 wurde er stellvertretender Generaldirektor der staatlichen Religionsstiftung, 2012 deren Generaldirektor. 2016 wurde er zum Chef des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten ernannt.

Von Palakoglus religiöser Kompetenz dürften dessen Förderer in der Politik auf eine spezielle Befähigung zum Katastrophenschutz geschlossen haben: 2018 wurde der Imam Vizepräsident der Katastrophenschutzbehörde.

Seit der Oppositionspolitiker Erhan Usta von der IYI-Partei vorige Woche die biografischen Details Palakoglus auf Twitter verbreitet und dessen katastrophenschützerische Inkompetenz thematisiert hat, gehen in den sozialen Medien die Wogen hoch.

Vor allem Auslandstürken nehmen sich kein Blatt vor den Mund: Die in den Niederlanden lebende Unternehmerin Sibel Sebüktekin etwa sieht im Afad-Chef das „hässliche Gesicht des politischen Islam“. Der Istanbuler Künstler Yigit Cakar machte seinem Zorn mit einem sarkastischen Tweet Luft: „Das Erdbeben ist Gottes Werk, also haben wir einen Diplom-Theologen gefunden, der vielleicht darüber nachdenkt, was Gott sonst tun könnte.“

Von Manfred Maurer