Die Minsker Philosophin Olga Shparaga spricht im VOLKSBLATT-Interview als Mitglied des oppositionellen Koordinierungsrates über die friedliche Revolution in Weißrussland (Belarus) und über Perspektiven für die Zeit nach Alexander Lukaschenko.
VOLKSBLATT: Wie geht es nach den letzten Großdemos, bei denen das Regime brutal gegen Bürger vorging, weiter?
OLGA SHPARAGA: Friedliche Proteste passieren jeden Tag, aber in verschiedenen neuen Formen, die dem Moment – vor allem der Brutalität des Regimes – entsprechen. An den Arbeitstagen hat man im Moment mit den Aktivitäten der Bürgerinnen in den Innenhöfen zu tun – es gibt schon 1155 Innenhöfe-Chats, 732 davon in Minsk. Vergangenen Samstag gab es in Minsk den dritten Frauenmarsch von 100.000 Frauen, über 70 Frauen wurden dabei brutal verhaftet.
Sie müssen ja jederzeit mit Verhaftung rechnen. Wie sehr beeinflusst die Angst Ihr Handeln?
Im Moment würde ich nicht über die Angst, die es natürlich auch gibt, sondern über Sorge um die Sicherheit sprechen. Man denkt etwa daran, ob man auf unbekannte Telefonanrufe antwortet und überhaupt per Telefon spricht. Bei den Märschen denkt man daran, wie man sicher bis zum Treffpunkt kommt, weil bis die Leute eine große Menge bilden, bleiben die Risiken hoch, dass sie verhaftet werden.
Weit entfernt vom Ende der Ära Lukaschenko
Die Oppositionsbewegung ist stark von Frauen geprägt. Warum ist das so?
Es gibt verschiedene Gründe, warum Frauen einen sichtbaren Teil oder sogar das Gesicht der Proteste bilden. Erstens, waren Frauen immer in NGOs aktiv. Zweitens, es geht um die breiteren Kreise von Frauen, die unter dem Druck der Erosion des Sozialstaates und von Covid-19 besonders gelitten haben. Frauen in Belarus sind zudem gut ausgebildet. Das und ihr Streben, solidarisch zu sein entsprach am besten der Idee der friedlichen Proteste, die erst vom im Juni festgenommenen Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko und dann von drei Frauen — Svetlana Tichanovskaja, Maria Kolesnikova und Veronika Zepkalo — propagiert wurden.
Kritisches Denken in Europa entdeckt
Führende Vertreterinnen der weißrussischen Opposition haben wie auch sie in Westeuropa studiert. Welchen Einfluss hatten diese Erfahrungen auf ihr politisches Denken?
Mein Studium in Deutschland hat mich echt transformiert — ich habe mich viel, viel sicherer gefühlt. Das kritische Denken habe ich auch in Europa entdeckt und habe dieses sowohl gegenüber Belarus, als auch gegenüber Europa als Ganzes praktiziert. So habe ich rechtpopulistische und antidemokratische Tendenzen in verschiedenen europäischen Ländern kritisiert.
Was erwartet sich die Opposition von Europa?
Vor allem eine koordinierte Position. Es soll um politische und wirtschaftliche Sanktionen gehen, dieses Regime soll keine Unterstützung von der EU bekommen. Aber Leute, NGOs und unsere Bürger sollten offenere Grenzen und verschiedene Austauschmöglichkeiten genießen. Ich denke, dass Europa in vielen Bereichen viel mehr tun kann.
Österreich ist nach Russland und Zypern der drittgrößte Investor in Belarus. Haben Sie besondere Erwartungen an Österreich?
Natürlich kann Österreich auch viel machen, etwa durch finanzielle Mechanismen fordern, dass politische Gefangene freigelassen werden. Unterstützung der zivilen Gesellschaft kann auch eine Variante der Unterstützung sein, auch im kulturellen Bereich, wo es schon gute Kontakte zwischen unseren Ländern gibt.
Glauben Sie, dass Putin für Lukaschenko wirklich einen neuerlichen schweren Konflikt mit Europa und den USA riskieren wird?
Putin hat ihn schon riskiert. Aber es geht dabei nicht um ein ukrainisches Szenario, sondern um die Ausweitung der wirtschaftlichen und militärischen Präsenz Russlands in Belarus, die nicht unbedingt sichtbar für den Westen ist, aber die Souveränität von Belarus schwächt.
Ist sich die belarussische Opposition bewusst, dass ihr Erfolg auch Moskau erschüttern könnte?
Ja, natürlich. Russland will keine demokratischen Nachbarn haben, es will Kontrolle über die Nachbarn.
Sehen Sie den Giftanschlag auf Nawalny auch in einem belarussischen Kontext — als Warnung an die Russen, sich nicht von Ihnen inspirieren zu lassen?
So könnte man sagen, aber wir haben keine Bestätigung dafür.
Sie schrieben schon im 2008 in einem Beitrag für eine Zeitschrift der österreichischen Landesverteidigungsakademie: „Belarus steht vor einer Weggabelung: Es wird entweder ein undifferenzierter Teil Russlands oder ein europäisches Subjekt der westlichen Welt.“ Wohin geht es?
Die belarussische Gesellschaft ist schon nach Westen orientiert, weil es jetzt, im Laufe von dieser Revolution-in-progress um die Demokratie geht — die Leute streben danach, in einer Demokratie und nicht im Autoritarismus zu leben. Bei den Meetings vor den Wahlen habe ich mehrmals von Svetlana Tichanovskaja gehört, dass Belarus ein europäisches Land ist. Latent blieb diese Fragestellung, weil Russland unser gefährlicher Nachbar ist, der seine Nachbarn kontrollieren will. Dabei gibt es in Belarus keine nationalistische Stimmung, das heißt Europäer zu sein bedeutet für uns nicht gegen Russland zu sein.
Neutralität nicht möglich
Was bedeutet eine europäische Perspektive konkret – das Streben nach einem Beitritt zur EU oder gar zur Nato? Oder: Könnte die Neutralität Österreichs Vorbild sein?
Im Moment wird das nicht diskutiert, weil es um den Kampf gegen den Autoritarismus geht. Und wir sind schon nicht neutral, weil Russland Lukaschenko unterstützt. Neutral kann Belarus in dem Sinn nicht sein, weil wir schon eine Reihe von Verträgen mit Russland haben. Man könnte sich vorstellen, dass wir im Rahmen dieser Verträge bleiben, aber Putin Lukaschenko nicht unterstützt und unsere Gesellschaft mehr Autonomie für demokratische Veränderungen bekommt. Aber im Moment scheint es leider nicht so zu sein. In jedem Fall wird unsere geopolitische Wahl auch in Zukunft von Russland abhängig sein, solange es autoritär bleibt und die Kontrolle über seine Nachbarn anstrebt. Das wird leider unmöglich zu ignorieren.
Mit OLGA SHPARAGA sprach Manfred Maurer