Das am Samstag seinen Abschluss gefundene 77. Filmfestival von Locarno mit 225 Filmen und mehr als 300 Filmprojektionen fokussierte als bestimmendes Thema die Bewahrung von Identität in authentischen Gemeinschaften. Die zunehmende Globalisierung der Welt lässt das Bewusstsein von Zugehörigkeiten entstehen und widmet sich in einem facettenreichen Zugang Formen und Kulturen der Erinnerung.
Unter der künstlerischen Leitung von Giona A. Nazzaro und erstmals unter der Präsidentschaft von Maja Hoffmann stehend, wurde im internationalen Wettbewerb der Goldene Leopard an den litauischen Beitrag „Akiplėša“ („Toxic“) von Saulė Bliuvaitė verliehen.
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Der Film thematisiert die Ziellosigkeit von Teenagerinnen in ihrer Kleinstadt, die ihre Hoffnungen auf eine Model-Agentur setzen. Die formale Strenge und kalte Linearität der Bilder kontrastiert dabei mit den menschlichen Körpern, die schließlich wie „Fremdkörper“ in einer toxischen Umgebung erscheinen. Der Film erhielt auch den Preis für das beste Erstlingswerk.
Der Spezialpreis der Jury erging an den österreichischen Film „Mond“ von Kurdwin Ayub über die schwierigen Lebensbedingungen von Frauen in Jordanien mit Choreografin Florentina Holzinger als Protagonistin.
Den Leoparden für die beste Regie erhielt der litauisch-lettische Film „Seses“ („Drowning Dry“) von Laurynas Bareiša über die Verbindung von Alltag und Tragik in einer Familientragödie.
Mit einer besonderen Erwähnung der Jury wurde die Doku-Fiction „Youth (Hard Times)“ von Regisseur WANG Bing (F, LUX, NL) ausgezeichnet. In einem Mosaik von Stimmen und Figuren werden die Arbeitsbedingungen für junge Menschen in chinesischen Textilfabriken in der Stadt Zhili offengelegt. Die zunächst gezeigte Anonymität der Arbeit wechselt zur Bewusstwerdung der persönlichen Anliegen in einem Kollektiv. Eine weitere besondere Erwähnung wurde dem spanischen Film „Salve Maria“ von Mar Coll zugesprochen.
Im internationalen Wettbewerb beeindruckte des Weiteren der portugiesische Beitrag „Fogo do Vento“ („Fire of Wind“). Regisseurin Marta Mateus erzählt in einem breit angelegten Personenmosaik die Geschichte der Landarbeiter Portugals, zurückgehend bis zur Salazar-Diktatur. Ausgehend von der Weinernte der Gegenwart erheben sich in einem Plädoyer für die Gemeinschaft der Landarbeiter/innen in magischem Realismus deren Stimmen, Geschichten, Erinnerungen und Traditionen von Einst und Jetzt.
Kunstvoll geschieht die Aufarbeitung von Geschichte anhand des Bürgerkrieges im Libanon zwischen 1975 und 1990 in „Green Line“ (Frankreich, Libanon, Qatar, 2024). Die 1975 in Beirut geborene Regisseurin Sylvie Ballyot konfrontiert in ihrer Doku-Fiction über nachgestellte Miniaturfiguren in direkten Gesprächen die ehemaligen Protagonisten dieses Krieges mit ihren Erinnerungen. Im Zentrum dabei steht die Klärung, was Krieg für die Kindheit und den Wert des Lebens bedeutet. Fragen, welche die Regisseurin gemäß ihrer Erfahrung als Kind stets begleiten. Dieser Film erhielt den erstmals vergebenen MUBI Award für das beste Filmdebut.
In der Sektion „Kinomacher der Gegenwart“ erging der Goldene Leopard an „Holy Electricity“ von Tato Kotetishvili aus Georgien. Der Regisseur wendet sich seiner Heimatstadt Tiflis mit ihrer Musik, ihren Bräuchen und ihrer Lebensstimmung zu. Eine besondere Erwähnung für das beste Filmdebut erhielt hier „Hanami“ (2024), der erste (bereits 2018 begonnene) Spielfilm von Denise Fernandes (Schweiz, Portugal, Kapverden).
Der poetisch gestaltete Film reflektiert in beeindruckender Fotographie die Traditionen, Mythen und Landschaften der Kapverdischen Inseln. Auf den von Migration geprägten Kapverden ist die Spannung zwischen Sehnsucht nach Aufbruch oder Verbleiben stets präsent. Dies kommt in der Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Nia und Nana zum Ausdruck. Als die Mutter für Jahre die heimatliche Insel verlässt, findet sich Nana aufgehoben in der Dorfgemeinschaft und bejaht die zukunftsweisende Entscheidung zu bleiben.
Eine Erbsenpflanze ist die Protagonistin des mit einer speziellen Erwähnung im Rahmen des Grünen Leoparden ausgezeichneten österreichischen Films „Revolving Rounds“ von Johann Lurf e Christina Jauernik. Den Grünen Leoparden selbst erhielt „Agora“ des tunesischen Regisseurs Ala Eddine Slim. Der Film konfrontiert in meditativer Erinnerung mit der Zerstörung der Natur und der Vergiftung des Wassers.
Den Spezial-Leoparden für sein Lebenswerk erhielt der italienische Regisseur Marco Tullio Giordana („I cento passi, 2000; „La meglio gioventù“, 2003). Beim Pressegespräch am 13.8. betonte der Regisseur, dass er keine außergewöhnlichen Filme schaffen wolle, sondern es wichtig sei, in die Tradition des Kinos eingebettet zu sein.
Auch auf der Piazza wurden bleibende Eindrücke für bis zu 8000 Zusehende hinterlassen: Mit dem nepalesischen Film „Shambhala“ (2024) von Min Bahadur Bham verwandelte sich das „Freiluftkino“ in die Hochgebirgslandschaft der Himalaya-Regionen. Die Suche nach ihrem verschollenen Ehemann mündet für die schwangere Rema in eine Reise zu sich selbst. Die Dreharbeiten für diesen eng mit den Traditionen der Gebirgsdörfer verbundenen Film wurden in einer Seehöhe zwischen 4400 und 6400 m durchgeführt.
„Gaucho Gaucho“ (USA, Argentinien, 2024), die Doku von Michael Dweck und Gregory Kershaw, lässt alle Generationen der berittenen halbnomadisch lebenden Landarbeiter zu Wort kommen. Deren besonderes Anliegen ist die Weitergabe ihrer eng mit der Tierwelt verbundenen Lebensweise. Über eine ihren Ehren-Kodex verteidigenden Protagonistin vollzieht sich anhand eines fiktiv unterstützten Erzählstranges die Begegnung mit Personen, Liedern und Traditionen der legendären Gauchos.
Von Michael Aichmayr