Ein zauberhafter Selbsterfahrungstrip im Wonderland

Ein großer Wurf: Musical„Wonderland“, sehr frei nach Lewis Carroll´s „Alice im Wunderland“, im Musiktheater

Daniela Dett als schrullige Herzkönigin inmitten ihres Hofstaates © Herwig Prammer

„Achtung, alternative Realität!“ warnt der bühnengroße Bildschirm. Die Zeichen auf dem Riesenscreen verschwimmen. Als normale Wirklichkeit erscheint in einem kleinen Ausschnitt ein echtes Paar, streitend vor der Scheidung, zwischen den Beiden ihr Kind Chloe.

Sich im Zauber der Absurditäten verlieren

Es dauert nur wenige Sekunden, bis auch das Publikum von einem virtuellen Alltag in einen realen wechselt, um bald darauf in die fantastische Welt des literarischen Nonsens-Klassikers abzutauchen und sich wie die Protagonistin fast drei Stunden im Zauber der Absurditäten zu verlieren. Regie führt der vielfach ausgezeichnete Christoph Drewitz (inszenierte 2021 in Linz Priscilla und The Wave).

Lesen Sie auch

Fulminante Premiere

Wieder erhielt das Musiktheater als international renommierte Musicalbühne die Rechte für die deutschsprachige Uraufführung des Musicals, sehr frei nach dem Roman von Lewis Carroll. Die fulminante Premiere am Sonntag bestätigt den ausgezeichneten Ruf des Linzer Ensembles, der auch auf einer einzigartigen Homogenität von Orchester, Schauspiel, Tanz, Gesang, Bühne und Kostümen gründet.

Megamultitaskingfrau Alice Cornwinkle stellt ihren Job weit über die Familie.  In ihrer Firma Everheart, die erfolgreich Spiele für Gamer produziert, steht die Neubesetzung der Vorsitzenden an. Neben einer Kollegin hat auch Alice Chancen. Kriterium ist, wer binnen 24 Stunden die bessere Spielidee hat. Alice rackert sich nächtens ab, bis sie nicht mehr kann. „Der allerschlimmste Tag meines Lebens“, erster Solo-Song der großartigen Valerie Luksch.

Gewusel von magischen Gestalten

Erschöpft schläft sie ein, und träumt sich in ein fantastisches Wunderland mit all den bekannt verrückten Figuren. Als sprechendes Kaninchen führt Christian Fröhlich sie in den „Club Wonderland“. Flamingos, Einhorn, Auster und ein Gewusel von magischen Gestalten umringen die beiden.

Anders als im Original werden die Figuren in Gute und Böse geteilt, weil ja beide Seiten in allen Menschen veranlagt sind. Als Gute stehen Alice Raupe, Katze und weißer Ritter einerseits zur Seite, verunsichern sie aber auch mit merkwürdigen Fragen. Sanne Mieloo brilliert als verrückte Hutmacherin und verkörpert Böse mit wunderbarer Soulstimme.

Die 11-jährige Eva Winklhofer überzeugt schauspielerisch wie gesanglich als reales Kind Chloe und als Alice-Kind, das immer wieder durch das Geschehen huscht, und schließlich Alice mit sich und der Familie ins Reine bringt.

Die Story verdichtet sich mit jeder Szene zum Selbsterfahrungstrip für Alice, randvoll mit weisen Sprüchen, heiter klugen Belehrungen, psychologisch gedeutet und erklärt oder die absurden Szenerien einfach hingenommen, wo etwa die Zeit rückwärtsläuft, damit man sich an Dinge erinnern kann, bevor sie geschehen oder ein Diktator, der seinen Untertanen befiehlt, frei zu sein.

Mitreißende Musiknummern

Alice muss sich mit ihrem inneren Kind aussöhnen, um sich selbst zu erkennen. Dazu textet Jack Murphy die Schulpsychologie zu mitreißenden Musiknummern. Nach einem Blues „Identität ist eine schwierige Geschichte“, wechselt El Gato (Lukas Sandmann) zum Cha Cha mit Gitarrensoli a la Carlos Santana. Aus vielen musikalischen Kisten holt Komponist Frank Wildhorn die Songs, jeder davon mit Hitpotential. Immer wieder begeisterter Zwischenapplaus bestätigt es.

Nach der Pause hat Daniela Dett als Herzkönigin, umgeben von menschgewordenen Spielkarten ihren großen Auftritt. „Rübe ab“ swingt sie in vielen Frequenzen des Jazzgesangs.

Als perfekter Gesamtkörper eine Augenweide

Das großartige Ballett wurlt chaotisch, bewusst nicht-synchron und auch mal unbeholfen, zugleich als perfekter Gesamtkörper eine Augenweide und sehr komisch.

Exzellente Band

Mit einer exzellenten Band bereitet Tom Bitterlich die Ohrwürmer aller Genres großartig auf. Käfige von Andrew D. Edwards als Bühnenbild erfüllen alle Funktionen, wechseln auf mehreren Ebenen zu Screens in eine paradox real virtuelle Welt. Kostümbildner Adam Nee tobt sich im Wonderland richtig aus, jede Figur einzelne überrascht beim ersten Auftritt.

Eine zarte Liebesgeschichte zwischen dem strahlenden Ritter und Alice rundet die Geschichte im Wonderland ab, um dann in der realen Welt ein triefend romantisches Happy End zu finden.
Ein großer Wurf des wundervollen Musicalensembles. Tosender Applaus.