Klaus Maria Brandauer im Brucknerhaus: Tanz auf der Leiche der Freiheit

Schauspieler las aus Èric Vuillards Roman „Die Tagesordnung“, an der Brucknerorgel Magdalena Hasibeder

Überwältigend: Klaus Maria Brandauer lesend und Magdalena Hasibeder an der Orgel © Reinhold Winkler

Aus anfänglichen Dreiwortsätzen wuchern Wortkaskaden, wachsen weiter zu präzisen Bildern, etwa zu 24 Industriellen, Silhouetten der Wirtschaft und mächtige Geldgeber des beginnenden Nazistaates. Gemessenen Schrittes verfügen sie sich in den kleinen Salon des Reichstagspalais. Jeder definiert durch seine Firma, wie auch Reichstagspräsident Hermann Göring einfach als Systemfigur erscheint, allesamt aber willfährige „Hohepriester an den Toren zur Hölle“.

Klaus Maria Brandauer liest am Sonntag im Großen Saal des Brucknerhauses aus „Die Tagesordnung“ von Éric Vuillard (Jg. 1968). Der mit dem Goncourt-Preis ausgezeichnete Roman schildert entscheidende Momente der nationalsozialistischen Machtergreifung.

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1933: Am Anfang steht das Geheimtreffen mit führenden Industriellen. Hitler ersucht Krupp, Siemens, Bayer und Co. um Parteispenden. Im Gegenzug verspricht er unter anderem Stabilität, heißt: keine Wahlen auf absehbare Zeit.

1938: Am Ende steht der Anschluss mit seiner Propagandamaschine, dem inszeniertem Jubel, den choreografierten Aufmärschen. Eine scharfe Beobachtung des drohenden Unheils aus der Sicht von Selbstmördern zeigt die ersten Opfer dieses künftig massenmordenden Systems.

Brandauer verkörpert fast unbewegt lesend alle handelnden Personen, ihre perfiden oder verzweifelten Motive angesichts der Unausweichlichkeit. Er zeichnet die historische Willfährigkeit der österreichischen Politiker, aber auch Persönlichkeiten, die ihr Land im Sterben sehen, und zwischen Etikette und Machtlosigkeit die eigene Haut, oder Reste des Staates zu retten versuchen.

Brandauer zoomt sich in die Seele der Protagonisten

Nuancen im Tonfall lassen selbst in einer reinen Auflistung von Namen Rang und Bedeutung der Figuren erahnen. Brandauer zoomt sich in die Seele der Protagonisten und hält zugleich das Weltgeschehen im Auge, fern jeder Sensationslust, jenseits von Pathos. Schuschniggs abgrundtiefe Angst liegt in einem winzigen Innenhalten. In Brandauers Stimme, seinem ruhigen Atem liegt grenzenloses menschliches Elend wie eiskalte Machtpolitik, politische Welten und seelische Abgründe. Knappe zwei Stunden dieser erlesenen Offenbarungen bestätigen einmal mehr Brandauer als herausragende Größe seiner Kunst.

Beglückende Ausdruckskraft an der Orgel

Die heuer so oft Bruckner und Gott geweihte Orgelmusik führte zwischen den Textsequenzen zum Lärm des Zweiten Weltkriegs und zur Sehnsucht nach Frieden. Nicht minder göttlich beglückt die Ausdruckskraft von Magdalena Hasibeder an der großen Orgel. Von satter Orgelgewalt bis zu gefühlter Sprachlosigkeit. In ungewohnten Klängen erschüttert sie musikalisch zu den gelesenen Texte. Brachialrock paart sich mit klassischer Virtuosität, dazu legt sie jede Menge Feingefühl in die Stücke für Orgel des Linzer Komponisten Rudolf Jungwirth (Jg. 1955) und die Werke von Michael Radulescu (1943 – 2023).

Nicht enden wollender Applaus

Leise setzt Applaus ein, der dann nicht aufhören will. Nach der dritten Verbeugungsrunde erst erhebt sich das Publikum, überwältigt von der Sprachmacht Brandauers, der Orgelkunst Hasibeders und den Texten des französischen Autors Éric Vuillard.

Von Eva Hammer