Eine fast schon altmodische Geschichte, ungeheuerlich flott erzählt. Ein Mann spricht eine Frau im Café an, lädt sie auf ein Glas Champagner ein, die beiden treffen sich bald allabendlich.
Dominique, die Frau, zögert erst, Claude, der Mann, ist außerordentlich charmant und perfekt. Dominiques Eltern verlieben sich sofort in Claude, Dominique willigt in seinen Heiratswunsch ein. Sie ziehen nach Paris, wo Claude die Filiale eines großen Unternehmens aufbauen soll.
So weit, so banal. Trivialliteratur, möchte man meinen. Doch die Erzählerin ist Amélie Nothomb, das ewige Wunderkind der französischen Literatur. Ein Bestseller fast jedes Werk der beinahe im Jahresrhythmus veröffentlichenden Autorin, das pure Lesevergnügen auch ihre jüngste Erzählung „Ambivalenz“.
Ist das Einfache das Triviale? Natürlich nicht. Was Nothomb im vermeintlich lockeren Plauderton auftischt, hat Weltliteratur von Shakespeare bis Dostojewski im Hintergrund. Das ewige Rätsel Mensch, seine dunklen Triebe, sein Bedürfnis nach Verbundenheit und Anerkennung, das ewige Duell zwischen oberflächlich schillernder Vernunft und rätselhaften Abgründen der Seele.
Liebe macht blind, Dominique braucht Jahre, um den Abgründen Claudes auf die Spur zu kommen. (Als erstes hätte ihn schon entlarven sollen, dass er wie ein billiger, ungebildeter Snob zu Chanel No. 5 als Geschenk für Dominique greift).
Claudes Wunsch nach einem Kind wird zur Qual für Dominique, die unter größten Schmerzen Épicène gebärt. Mutter und Tochter bald ein Herz und eine Seele, während Claude seinem Kind nur mit Hass begegnet. Was treibt ihn an? Die zunächst fremd anmutende Anfangsszene des Buches weist den Weg.
Ein oder kein Mord
Rache ein tabuisierter Antrieb, den eine „zivilisierte Gesellschaft“ gerne verdrängt. Nothomb blickt tief in die Menschenseele und entblättert nebstbei auch äffisches Standesbewusstsein in der französischen Gesellschaft. Man versteht nach der Lektüre besser, warum etwa elitäre Attitüden des ansonsten sehr begabten französischen Präsidenten Emmanuel Macron auf derart heftige Abneigung stoßen.
Am Ende ein Mord, der kein Mord ist. Oder doch, wer weiß das schon. Nothomb schreibt klug und weise, unterhält rasend gut. Das Leichte und das Schwere, ein Milan Kundera beherrschte diese Technik, Nothomb ist vielleicht noch eine Spur witziger. Tolles Buch.
Von Christian Pichler