Rund um den 75. Jahrestag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 waren in Europa viele Gedenkfeiern geplant. Wegen der Corona-Krise mussten sie alle abgesagt oder in den virtuellen Raum verlegt werden.
Nicht gestrichen werden mussten dagegen in Tschechien Gedenkveranstaltungen für die nach Kriegsende vertriebenen oder ermordeten Sudetendeutschen. Solche waren gar nicht geplant.
Kollektivschuldprinzip
Drei Millionen Sudetendeutschen mussten 1945 büßen für die Nazi-Verbrechen. Die Frage nach der persönlichen Schuld spielte dabei keine Rolle. Das Urteil resultierte allein aus der ethnischen Zugehörigkeit und traf daher nicht nur die Täter, sondern auch unschuldige Frauen, Kinder und Greise.
Rache für die Nazi-Gräuel ist aber nur ein Teil der Erklärung. Denn in den Köpfen tschechischer Nationalisten geisterte der Vertreibungsgedanke schon seit der Auflösung der Donaumonarchie herum. Einer von ihnen war Edvard Benes, Außenminister (1918–1935) und Staatschef drei Jahre vor und nach sowie Exil-Präsident während der Nazi-Besatzungszeit. Er war überzeugt: Man hätte die Deutschen schon 1918 vertreiben müssen, was aber leider damals nicht möglich gewesen sei.
1945 war es möglich. Sogar mit dem Sanktus der Siegermächte. Allerdings entsprach diese Vertreibung nicht einmal dem minimalen Menschlichkeitsanspruch der Siegermächte, die im Potsdamer Abkommen im August eine Abschiebung der Deutschen „in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ billigten.
Tausende Deutsche waren zu dem Zeitpunkt schon ermordet worden. „Rechtsgrundlage“ bilden die Benes-Dekrete. Das Dekret Nr. 5 vom 19. Mai 1945 verfügt die entschädigungslose Enteignung aller „staatlich unzuverlässigen Personen“. Als solche gelten alle Personen deutscher oder magyarischer (ungarischer) Nationalität.
„Wilde Vertreibung“
Das Dekret Nr. 33 vom 2. August spricht ihnen die Staatsbürgerschaft ab. Bereits vom Mai bis Juli werden während der „wilden Vertreibung“ Hunderttausende buchstäblich aus dem Lande gejagt. Viele fallen Massakern zum Opfer. Ende Mai werden die Deutschen in Brünn (Brno) auf den Todesmarsch nach Österreich geschickt — von 27.000 sterben nach unterschiedlichen Schätzungen 4000 bis 8000. Auf die „wilde“ folgt die systematische ethnische Säuberung: Ort für Ort werden alle Deutschen in Lagern konzentriert und bis Ende 1946 nach Deutschland und Österreich abgeschoben.
Über die Zahl der Todesopfer herrscht keine Einigkeit. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL) spricht von 241.000 Toten, tschechische Historiker kommen auf deutlich geringere Zahlen.
Wie auch immer: Der Tatbestand des Völkermordes ist erfüllt. Zu diesem Schluss kam der österreichische Völkerrechtler Felix Ermacora in einem 1991 für die bayerische Staatsregierung erstellten Gutachten.
„Milde Strafe“
Nach Lesart des tschechischen Präsidenten Milos Zeman war die Vertreibung dagegen eine „milde Strafe“. Obwohl sein Vorvorgänger Vaclav Havel die Vertreibung verurteilt hatte, konnte sich Prag bis heute nicht zu einer formellen Entschuldigung, geschweige denn zu Entschädigungen durchringen. Auch die 1999 vom EU-Parlament beschlossene Forderung nach Aufhebung der Benes-Dekrete verhallte ungehört.
Mit Bernd Posselt (CSU) an der Spitze hat sich die Landsmannschaft bis an die Grenze zur Selbstaufgabe, manche meinen sogar: darüber hinaus, auf die Tschechen zubewegt. Die vor fünf Jahren erfolgte Streichung der Forderung nach „Wiedergewinnung der Heimat“ aus der SL-Satzung sorgte für heftige Turbulenzen in der Landsmannschaft, weil manche Vertriebene bzw. deren Nachkommen dies als Verzicht auf ihr Eigentumsrecht ablehnten.
Symbolträchtige Absage
Die tschechische Rechnung, Verhandlungen mit der Landsmannschaft abzulehnen und die Causa für abgeschlossen zu erklären, ist aufgegangen. Das Thema spielt in der politischen Debatte inzwischen keine Rolle mehr — weder in Tschechien, noch im bilateralen Verhältnis mit Österreich oder Deutschland.
Posselts Traum, den alljährlichen Sudetendeutschen Tag einmal in der alten Heimat abzuhalten, hat Ministerpräsident Milan Babis als „Provokation“ zurückgewiesen. Heuer gibt es gar keinen Sudetendeutschen Tag. Das zu Pfingsten in Regensburg geplante Treffen wurde abgesagt. Das Coronavirus hat diesen Schritt erzwungen, der allerdings auch den politischen Stellenwert der sudetendeutschen Frage symbolisiert.
Von Manfred Maurer