Putin droht mit Raketenschlägen gegen Kiews Unterstützer

Interkontinentalrakete bei einer Militärparade in Moskau © APA/AFP/Archiv/ALEXANDER NEMENOV

Der russische Präsident Wladimir Putin droht nicht nur der Ukraine, sondern auch ihren westlichen Unterstützerländern mit Raketenangriffen. „Wir sehen uns im Recht, unsere Waffen gegen militärische Objekte der Länder einzusetzen, die es zulassen, dass ihre Waffen gegen Objekte bei uns eingesetzt werden“, sagte er am Donnerstagabend in einer Videoansprache. Russland hatte nach Darstellung Putins eine neue ballistische Mittelstreckenrakete gegen die Ukraine eingesetzt.

Der Einsatz einer Rakete mittlerer Reichweite gegen Ziele in der Ukraine sei eine Reaktion auf die ukrainischen Angriffe mit westlichen Raketen größerer Reichweite, erklärte Putin in einer Fernsehansprache. Die USA wurden von Russland kurz vor dem Start über den Angriff mit einer ballistischen Rakete informiert, sagte ein Mitarbeiter der US-Regierung. Die Ukraine hatte zuvor gemeldet, dass Russland bei einem Luftangriff am Donnerstag in der Früh erstmals seit Kriegsbeginn eine Interkontinentalrakete abgefeuert habe.

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Rakete vom Kaspischen Meer abgefeuert

Die ukrainische Luftwaffe meldete, die Rakete sei aus der russischen Region Astrachan auf die Stadt Dnipro abgeschossen worden. Zwischen beiden Orten liegen etwa 700 Kilometer. Bei dem Angriff wurden nach Angaben örtlicher Behörden in Dnipro zwei Menschen verletzt. In der Großstadt wurde demnach auch ein Industrieunternehmen beschädigt. Zudem seien zwei Brände in der Stadt ausgebrochen. Die Rakete sei von der südlichen Region Astrachan am Kaspischen Meer aus gestartet worden, teilte auch das ukrainische Militär mit. Einige Militärbeobachter sprachen in dem Zusammenhang von einem Warnschuss, aber auch einer möglichen Generalprobe für einen echten Atomschlag.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in seiner Videoansprache: „Heute gab es eine neue russische Rakete. Alle Merkmale – Geschwindigkeit, Höhe – entsprechen denen einer interkontinentalen ballistischen Rakete. Eine Expertenuntersuchung läuft derzeit.“

Putin spricht von Rakete namens Oreschnik

Putin bestätigte indes einen Angriff mit einer neuen Mittelstreckenrakete und drohte mit weiteren Raketenangriffen auf die Ukraine. In der Videoansprache nannte er das System Oreschnik. Es arbeite mit Hyperschallgeschwindigkeit und könne nicht abgefangen werden, sagte der Kremlchef. In der ukrainischen Großstadt Dnipro waren am Donnerstagmorgen mutmaßlich sechs Sprengköpfe einer russischen Rakete eingeschlagen. Es seien keine nuklearen Sprengladungen gewesen, sagte Putin.

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Er sprach von einer Reaktion darauf, dass die USA und andere westliche Länder der Ukraine den Einsatz weitreichender Waffen auf russischem Territorium erlaubt hätten. „Wir haben mehrfach unterstrichen, dass der vom Westen provozierte Regionalkonflikt in der Ukraine Elemente globalen Charakters angenommen hat“, sagte Putin. Zugleich nannte er das neue System die Moskauer Antwort darauf, dass die USA Mittelstreckenraketen in Europa und im Pazifik stationieren wollten.

Bei weiteren möglichen Tests mit Oreschnik werde Russland die Zivilbevölkerung warnen, damit sie die Gefahrenzone verlassen könne, sagte Putin. Er sprach nicht von einem Nuklearangriff. Allerdings werten Experten gerade den Einsatz von mehreren Sprengköpfen als Hinweis darauf, dass die Rakete technisch gesehen auch nuklear bestückt werden könnte. Daten zu der neuen Rakete gibt es bisher nicht, auch die Typenbezeichnung ist bisher nicht aufgetaucht.

Zweifel an der Version Interkontinentalrakete

Bereits zuvor hatte es Zweifel an der Version einer Interkontinentalrakete gegeben. Nach Angaben eines westlichen Regierungsvertreters handelte es sich nicht um eine Interkontinentalrakete. Dies habe eine erste Analyse ergeben, sagte der Regierungsvertreter der Nachrichtenagentur Reuters. Die BBC berichtete später unter Verweis auf anonyme Quellen, dass es im Weißen Haus Zweifel an der Version einer Interkontinentalrakete gebe. Es handle sich zwar um eine ballistische Rakete, aber wohl um eine mit kürzerer Reichweite als die 6.000 Kilometer, die eine Interkontinentalrakete fliegen könne.

Auffällig war auch, dass es von der NATO keine Reaktion gab. Der Start einer Interkontinentalrakete hätte überall roten Alarm auslösen müssen, meinte der unabhängige Militäranalyst Jan Matwejew.

Auf die Aussage der ukrainischen Luftwaffe angesprochen, verwies Kreml-Sprecher Dmitri Peskow Reporter zuvor an das russische Militär. Die Sprecherin des Außenministeriums in Moskau, Maria Sacharowa, erhielt während eines wöchentlichen Briefings einen Anruf, in dem ihr von einem nicht identifizierten Mann gesagt wurde, sie solle keinen Kommentar zu der Rakete abgeben.

Der russische Angriff auf Dnipro erfolgte, nachdem die Ukraine in den vergangenen Tagen erstmals mit US-amerikanischen und britischen Raketen Ziele in Russland attackiert hatte. Derartige ukrainische Angriffe würden nicht den Ausgang des „Sondereinsatzes“ dort ändern, sagte Putin. Damit bezeichnet die Regierung in Moskau den von ihr begonnenen Krieg.

UNO: Besorgniserregende Entwicklung

Nach der Ankündigung Putins, die neue experimentelle Mittelstreckenrakete gegen die Ukraine einzusetzen, sprachen die Vereinten Nationen von einer „besorgniserregenden Entwicklung“. „All das geht in die falsche Richtung. Was wir sehen wollen, ist, dass alle Parteien dringend Schritte unternehmen, um die Situation zu deeskalieren“, sagte UNO-Sprecher Stéphane Dujarric in New York. Dujarric war nach Putins Aussagen zu einer neuen Mittelstreckenrakete und möglichen Angriffen auf Drittstaaten gefragt worden.

Bei dem Einsatz der experimentellen Mittelstreckenrakete handelt es sich nach Darstellung eines Vertreters der US-Regierung lediglich um einen russischen Einschüchterungsversuch. Russland verfüge „wahrscheinlich nur über eine Handvoll“ dieser Raketen, sagte ein US-Regierungsvertreter der Deutschen Presse-Agentur in Washington. Russland versuche mit dem Einsatz dieser Rakete nur Aufmerksamkeit zu erregen, in diesem Konflikt werde sie aber keine entscheidende Rolle spielen. Die USA hätten die Ukraine und enge Verbündete in den vergangenen Tagen über einen möglichen Einsatz der neuen Waffe informiert.

Großbritanniens Verteidigungsminister John Healey warf Russlands Präsidenten Putin eine Eskalation in der Ukraine vor. „Wir haben in den vergangenen Wochen eine sehr klare Eskalation von Putin und seinen Streitkräften gesehen“, sagte Healey am Donnerstag im Parlament in London. Sie hätten ihre Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung vor dem Winter sowie auf zivile Zentren ausgeweitet.

Russland fing Storm-Shadow-Marschflugkörper ab

Kremlsprecher Peskow warf dem Westen seinerseits eine Eskalation vor. Die scheidende US-Administration unter Präsident Joe Biden sei verantwortungslos und tue alles, um Öl ins Feuer zu gießen und den Konflikt weiter anzuheizen, sagte er. Damit reagierte er auf neue Informationen, wonach Russland mit Marschflugkörpern britischer Bauart vom Typ Storm Shadow beschossen wurde. Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte nämlich zuvor mitgeteilt, zwei von der Ukraine abgefeuerte Storm Shadow abgefangen zu haben. Es wäre das erste Mal seit Kriegsbeginn, dass die weitreichenden Marschflugkörper gegen Ziele in Russland eingesetzt werden.

„Von der Flugabwehr wurden 2 Marschflugkörper Storm Shadow aus britischer Produktion, 6 reaktive Geschosse des Typs Himars aus US-Produktion und 67 Drohnen abgeschossen“, heißt es in der Mitteilung des russischen Militärs. Zu Einschlägen und Schäden machte das Verteidigungsministerium keine Angaben.

Britische Medien hatten bereits am Vortag unter Berufung auf nicht genannte Insider-Quellen über den Angriff berichtet. Demnach sind Trümmerteile der Marschflugkörper in dem Ort Marjino im russischen Gebiet Kursk, knapp 45 Kilometer entfernt von der Grenze gefunden worden. Parallel dazu schrieb der Kursker Gouverneur Alexej Smirnow auf Telegram, dass zwei Raketen abgeschossen worden seien – er machte aber keine Angaben zu deren Typ.

Das in Washington ansässige Institut für Kriegsstudien (ISW) berichtete, dass ein gemeinsamer russisch-nordkoreanischer Kommandopunkt angegriffen und zerstört worden sei. Der ukrainische Generalstab hat diese Angaben allerdings nicht bestätigt. Aus Moskau ist das Eingeständnis eines kritischen Treffers ohnehin nicht zu erwarten. London äußerte sich nicht zu den Vorwürfen eines Storm-Shadow-Einsatzes.

Bereits Anfang der Woche sollen erstmals ATACMS-Raketen aus US-Produktion gegen ein Munitionslager in der westrussischen Region Brjansk eingesetzt worden sein. Dem Vernehmen nach hat Biden dem Einsatz weitreichender Waffen gegen Russland zugestimmt, um ein Zeichen an Nordkorea zu senden, das an der Seite Russlands mutmaßlich Soldaten in den Konflikt entsendet hat.

ATACMS und Storm Shadow sind weitreichende Waffen. Vor deren Einsatz über russischem Gebiet hat der Kreml gewarnt. Diese Raketen könnten nur von westlichen Militärs bedient werden, hatte Putin im Oktober behauptet. Dementsprechend würde ein Einsatz dieser Waffen von Moskau als direkte Beteiligung der entsprechenden Staaten an dem Krieg gewertet werden.

Zuletzt hatte Russland in dem Zusammenhang seine Atomdoktrin aufgeweicht. Demnach könne Russland Kernwaffen auch einsetzen, wenn das Land von einem Staat ohne Atomwaffen angegriffen werde, der seinerseits von einer Nuklearmacht unterstützt wird.

Die Ukraine verteidigt sich im dritten Jahr gegen den Angriffskrieg Russlands. Präsident Selenskyj bat seit längerem darum, weitreichende Waffen von westlichen Partnern auf russischem Territorium einsetzen zu können. Als Begründung wurde angeführt, dass dies für den Kriegsverlauf entscheidend sei. Experten bezweifeln aber, dass die weitreichenden Raketen der Ukraine zum Sieg verhelfen können. Ein US-Regierungsvertreter sagte am Donnerstag, der Angriff vom Morgen mit einer „experimentellen ballistischen Rakete mittlerer Reichweite“ sei kein „game changer“.