Bin Ladens Sieg: Islamismus in vielen Varianten im Vormarsch

20 Jahre nach dem 9/11-Massenmord gibt es keinen Trost: Afghanistan ist nur die Spitze des islamistischen Eisberges

Ausgelöscht und doch präsent: Osama bin Ladens (r.) Haus im pakistanischen Abottabad (l.) wurde geschleift. Ein US-Kommando hatte ihn dort 2011 getötet und seine Leiche im Meer versenkt. Der Sieg der Taliban zehn Jahre danach ist auch Bin Ladens später Triumph..
Der Sieg der Taliban zehn Jahre danach ist auch Bin Ladens später Triumph... © AFP /HO SITE Intelligence Group

Am Ort des Infernos überragt längst wieder ein Wolkenkratzer die New Yorker Skyline. Dort, wo vor 20 Jahren in den einstürzenden Twin Towers Tausende Menschen dem bis dato folgenschwersten Terroranschlag zum Opfer gefallen waren, steht nun das mit 541 Metern höchste Gebäude der USA.

Doch das als Leuchtturm der Freiheit gedachte „One World Trade Center“ hat zum 20. Jahrestag der 9/11-Terrorserie jegliche positive Symbolkraft eingebüßt. Wenn es überhaupt für etwas steht, dann für Amerikas größte außenpolitische Schlappe.

Anfangserfolg

Der von US-Präsident George W. Bush umgehend ausgerufene „Krieg gegen der Terror“ hatte so wie viele verlorene Kriege begonnen: erfolgreich. Die in Afghanistan herrschenden Taliban, welche Bin Ladens El Kaida Unterschlupf gewährten, waren wenige Wochen nach dem 9/11-Schock aus Kabul vertrieben. Mit europäischer Unterstützung und mit vielen Milliarden wollten die USA am Hindukusch einen demokratischen Staat schaffen.

Am 10. Jahrestag war den USA schon klar, dass sie sich das — wie auch 2003 im Irak nach dem schnellen Sturz von Diktator Saddam Hussein — etwas zu einfach vorgestellt hatten. Aber es gab etwas zu feiern. Amerikas Staatsfeind Nummer 1 war ausgelöscht.

Das US-Kommando, welches Bin Laden am 2. Mai 2011 im pakistanischen Abottabad aufgespürt hatte, sollte den Drahtzieher des 9/11-Horrors nicht nur töten, sondern jede Spur von ihm tilgen. Sein Leichnam wurde im Arabischen Meer versenkt. Kein Märtyrergrab sollte islamistische Pilger anziehen können.

Antiwestlicher Feldzug

Bin Ladens Tod mochte El Kaida vorerst geschwächt haben, doch der Terrorhydra wuchsen schnell neue Köpfe. Vor allem Europa zahlte einen hohen Bluzoll bei vielen Anschlägen, die Schergen des im Irak und Syrien — auch aufgrund einer verfehlten US-Politik — entstandenen „Islamischen Staates“ (IS) verübten. Bush war mit der falschen Behauptung, Saddam fördere El Kaida und besitze C-Waffen, einmarschiert und hatte mit der Auflösung der irakischen Armee die IS-Truppe quasi mitbegründet. Tatsächliche IS-Kämpfer oder Trittbrettfahrer starteten einen blutigen Feldzug gegen die westliche Lebensart — vor allem in Europa, das an der Seite der USA steht und für Terroristen leichter als Amerika erreichbar ist.

Teufel & Beelzebub

Zumindest einen Triumph hatte Joe Biden am 11. September 2021 zu feiern gehofft: Wenn schon Afghanistan weit entfernt ist von der Demokratie, El Kaida kann als besiegt abgehakt werden. Doch nicht einmal das hat funktioniert. Nach dem schmählichen Abzug aus Kabul geraten die USA und ihre europäischen Verbündeten sogar in Versuchung, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Man hofft, die bisher bekämpften Taliban — wohl durch massive finanzielle und politische Zugeständnisse — zur Mäßigung ihrer El-Kaida-Freunde bewegen zu können. Wer auf solche Deals mit den Taliban setzt, sollte auf blutige Enttäuschungen gefasst sein.

Unterschätzte Gefahr

Das Gedenken zum Jahrestag des 9/11-Terrors sollte jedoch nicht nur die mit Feuer und Schwert agierenden Islamisten im Fokus haben. Denn indirekt gab der Terror in den vergangenen 20 Jahren auch Kräften Auftrieb, die zwar gewaltfrei agieren, aber ebenfalls einen Islam vertreten, der nicht nur Glaube, sondern ein mit westlichen Werten inkompatibles Gesellschaftssystem ist.

Gerade die verstörenden Szenen des Terrors fördern die Sehnsucht der Politik nach muslimischen Ansprechpartnern, die einen Islam mit menschlichem Antlitz versprechen und natürlichen jede Form der Gewalt ablehnen. Solche Partner gibt es. Allerdings ist genaues Hinschauen und Hinhören geboten. Denn nicht selten verbirgt sich hinter der freundlichen Fassade die Fortsetzung des Heiligen Krieges (Dschihad) mit anderen Mitteln.

Die Bundesregierung trug dem mit der Errichtung der Dokumentationsstelle für den Politischen Islam Rechnung.

Durch die Hintertür

Verfassungsschützer warnen seit Jahren vor der „legalistischer“ Taktik des Politischen Islams. Legalistische Islamisten wie die auch in Österreich vertretene Milli-Görüs-Bewegung oder die Muslimbruderschaft achten nach Erkenntnissen des deutschen Bundesamtes für Verfassungsschutz darauf, weder durch Handlungen noch durch öffentliche Äußerungen justiziable Fehler zu begehen. Doch: „In internen Zirkeln, Schulungsmaßnahmen und Fortbildungsveranstaltungen wird eine islamische Rechts-, Gesellschafts- und schließlich auch Staatsordnung propagiert, die mit wesentlichen Aspekten des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren ist.“ Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz warnte schon 2018: „Auf lange Sicht ist die aus dem legalistischen Islamismus resultierende Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung größer, als jene durch den Dschihadismus.“

Bin Laden ist tot. Doch die Ideologie, die ihn antrieb, lebt weiter. In vielen Variationen. Und keinesfalls nur in Afghanistan.

Eine Analyse von Manfred Maurer

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